Meine Geschichte – Kapitel 9

von | Jan 9, 2019 | Meine Geschichte | 0 Kommentare

Kapitel 9: Die Wirkung von Mächtigem Frieden

 Im Bereich des Traumas ist ein Gedanke zentral: Sicherheit. Wenn du dabei einen Fehler machst, verlierst du einen Klienten, er kommt dann nie wieder. Das trifft vor allem auf Personen zu, die schwer gelitten haben in ihren Missbrauchssituationen, da sie ein hochempfindliches Radarsystem besitzen, um herauszufinden, ob eine Situation oder eine Person als sicher zu betrachten ist. Sie sind bereit, wegzulaufen, zu kämpfen oder sich zu fügen (allerdings nur äußerlich!)

Die Interkonfessionelle Charismatische Missionskonferenz in Bangkok 1972 wurde für mich zu einem neuen Ausgangspunkt in Bezug auf die Heilung von Traumata, die aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. Wenn ich als Missionar durch den Zoll gehen musste, war ich immer nervös und das vermittelte auch meine Körpersprache. Zollbeamte sahen sich nach nervösen Menschen um, aber wenn sie mich durchsuchten, konnten sie nichts finden. Etwas so Einfaches, wie meine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, brachte mich aus dem Häuschen, wenn ich vor einer winzigen Thaifrau mit Uniform stand, die mich um meine Papiere bat. Ich stellte fest, dass mein Körper sich an etwas erinnerte, was mein Verstand vergessen hatte. Jener niederländische Soldat mit seiner Uniform hatte unsichtbare Narben in meiner Seele hinterlassen und sie waren der Grund für diese seltsamen Ängste und die Nervosität beim Anblick einer Uniform… Da verstand ich, warum ich mit Beklemmung reagierte, wenn wir durch den Zoll gingen. Mir wurde der Schaden bewusst, den meine soziale Kompetenz genommen hatte. Andererseits machte der Vorfall mit den Bomben in der Grenzstadt, nachdem wir Deutschland verlassen hatten, sowie auch das Wissen um Gottes Gegenwart mit dem darauf folgenden Erleben von Ruhe mir bewusst, dass dort ebenfalls Gott mit uns gewesen war.

Auch eine Gruppe von Priestern und Nonnen war zur Charismatischen Konferenz gekommen. Für einen der Missionare war das zu viel. Er war noch dazu ein Kind, dessen Eltern Missionare in Südamerika waren. Am Beginn der Konferenz erhob er sich und gestand: „Es ist für mich ganz schwer, auch katholische Priester und Nonnen hier zu sehen. Wir wurden aus unserem Haus von einem wütenden Mob der Dorfbewohner unter der Leitung des Ortspfarrers vertrieben. Wir mussten um unser Leben laufen“. Ein Priester stand auf und sprach: „Das war eine schreckliche Erfahrung für dich und deine Familie. Ich ersuche dich dringend, uns zu verzeihen. Darf ich deine Füße waschen, mein Bruder?“ Der Priester ging zu diesem verwirrten Bruder, umarmte ihn und kniete sich zu seinen Füßen nieder. Viele von uns hatten Tränen in den Augen, als wir diese Versöhnung miterlebten.

Wir nahmen Kontakt auf mit einigen dieser Priester und Nonnen, die fast in unserer Nähe arbeiteten. Wir begannen mit einem gemeinsamen Gebetstreffen, bis der Vorsitzender unserer Mission diesem Tun ein Ende bereitete. Seiner Begründung nach habe es zu viele Probleme für die (protestantischen) Gläubigen im Ort ausgelöst.

Gott ist gnädig. Er führt uns voran. Er führte mich immer weiter, meinen Dienst „Segnend Helfen “ zu entwickeln und auszubauen. „Segnend Helfen“ ist ein Modell, das auf Ermutigung gründet. Wir versuchen, herauszufinden, was Gott im Leben des Klienten schon getan hat und verstärken es. Traumatisierte Menschen brauchen einen speziellen Ansatz, weil jede Konfrontation bei ihnen eigene Reaktionen auslöst wie z.Bsp.:

 – sie laufen weg;

–  sie widersprechen, dann lehnen sie ab oder wehren sich gegen das Gesagte,

–  sie erstarren einfach,

–  sie werden ganz gefügig, zu tun, was man von ihnen erwartet, aber sie können oder wollen nicht ausführen, was sie versprochen haben.

–  sie haben das Gesagte nicht gespeichert und sind zu peinlich berührt von dem, was sie einem erzählen. Ein höfliches Zustimmen ist die Folge, das Handeln jedoch bleibt aus.

Das ließ mich eine Grundregel der zwischenmenschlichen Beziehungen verstehen: Konfrontation ohne Beziehung führt zur Trennung. Für die Heilung ist eine Beziehung unbedingt notwendig. Das war der Hintergrund, auf dem ich meinen „weichen Stil“ für „Segnend helfen“ entwickelte, weil ich durch mehr als vierzig Jahre mit traumatisierten Menschen gearbeitet habe. Ich bespreche nur das, was sie besprechen wollen…

Der Körper erinnert sich

 Der Körper erinnert sich nicht allein an all das Schlimme, das geschehen ist. Wir können ihn auch mit neuen Wegen vertraut machen, um andere Erinnerungen hervorzubringen. Wie können körperlich angespannte Überlebende des Missbrauchs zu einer lockereren Haltung kommen?

Heilende physische Reaktionen

Für die Entwicklung von intimen Beziehungen ist die Hingabe auf friedvolle  Weise ganz wichtig, wie Christen es zu hören gewohnt sind: Überlass dich Jesus, doch Missbrauchsüberlebende fragen sich selbst, ob sie das können: „Wie gelingt mir das?“

 Es war notwendig, dass ich über das christliche Paradox sprach: Gott ist allmächtig, oft jedoch gebraucht er gerade Seine Macht nicht, um einen Missbrauchstäter zu stoppen. Überlebende stellen genau diese Frage immer wieder. Sie waren gezwungen, Dinge zu tun, die sie verabscheuten. Mitunter reagierte ihr Körper positiv und der Täter würde sagen: Siehst du, das ist nicht schlimm… Viele sagten zu mir: „Mein Körper hat mich verraten“. Ich gab ihnen zu verstehen, was die Bibel dazu sagt (1). Meine Schlussfolgerung lautet: „Bitte, sprich mit Gott darüber. Er versteht deine Wut Ihm gegenüber. Er wird dich nicht töten, nur weil du Ihn nicht verstehst und ich gebe zu, dass es schlimm war, es hätte nicht passieren dürfen. Die Bibel sagt: ‚Sei zornig, aber sündige nicht‘ (Eph. 4,26). Bitte den Herrn, dass er in deine Wut kommt und sie von der Sünde reinigt, dann kann die Wut sich wandeln zu einer Kraft für positive Handlungen.“

Ich habe oft Überlebende des Missbrauchs insofern helfen können, dass sie einigermaßen verstanden und sich sogar damit abgefunden haben, warum Er die Täter nicht gestoppt hatte. Gewöhnlich helfen ihnen zur besseren Entspannung Aktionen wie tiefes Atmen, flottes Gehen, oder auch, um den Geist vom Inhalt abzubringen, ein Haustier streicheln oder ein Buch lesen.

Yoga wird in christlichen Kreisen gewöhnlich nicht so gut angenommen. Wie beruhigt jemand mit einer Methode diesen angespannten Körper, wenn sie religiös nicht anerkannt ist? Es ist für Christen eher üblich, zu knien, wenn sie beten wollen. Damit zeigen sie, dass sie sich dem Herrn unterwerfen. Sie dazu ermutigen, hilft ihnen, es zu tun, vor allem, wenn andere es mit ihnen tun. Ein Mal sind sie bereit, sich vor den Herrn niederzuknien, wenn sie sich bei ihrem Berater sicher fühlen, ein anderes Mal entscheiden sich Überlebende für das Hinlegen, wenn sie einen Segen empfangen. Sich hinlegen als frei gewählter Akt ist für einen Überlebenden verständlicherweise etwas ganz Besonderes. Da können sie ihrem Körper erlauben, zu tun, was er tun will. Das ist es, wozu ich sie ermutige. Ich habe kleine unwillkürliche Schocks in ihrem Körper oder manchmal ein ganz leises Zittern wahrgenommen. Anhand der Bücher von Peter Levine und Bessel van der Kolk lernte ich zu erklären, was vor sich geht und warum das ein Teil des Heilungsprozesses ist.

Schon früh habe ich in meinem evangelischen Dienst ein so genanntes Estherprogramm entwickelt dazu noch ein Programm gegen die Scham, um neue Erfahrungen zu lehren.

Das EstherProgramm

 Vor allem Überlebende des sexuellen Missbrauchs haben ein Problem, sich auf ihren Körper zu konzentrieren. Es tut einfach zu weh. Ich bin von Natur aus  geneigt, darüber eher wenig zu reden, aber eine Frau, der ich begegnete, inspirierte meine Kreativität. Nach einem Seminar, in dem ich etwas zur Sexualität erwähnte, suchte mich eine Frau auf. Sie erklärte: „Ich habe mehrere Söhne, mein Mann hatte das volle Vergnügen und ich hatte den ganzen Verdruss“. Ich fragte sie, ob sie Hilfe wolle. Nach einem herzhaften Ja vereinbarten wir, dass sie zusammen mit ihrem Mann zum Beratung kommt. Ich erinnere mich noch, wie sie in mein Büro trat und der Mann ihr folgte. Mir kam der Gedanke: ‚Herr, diese Frau ist ein Niemand, sie hat keine persönliche Ausstrahlung‘. Ich war überrascht, als ich den Herrn in meinem Geiste sagen hörte: ‚Ich werde aus ihr eine Prinzessin machen‘. Ich fragte: ‚Wie denn, Herr?‘  Er zeigte mir Cartoon ähnliche Bilder mit den Worten: ‚Wie die Königin Esther‘. In den folgenden Gesprächen, auch ohne ihren Mann, teilte ich ihr das Estherprogramm mit, das ich in meinem Geiste entwickelt hatte. Königin Esther wurde als Konkubine für den König Ahasveros gehalten. Sie wurde gebadet, parfümiert und für eine Party angekleidet. Ihre Bereitschaft, das auf sich zu nehmen, verwandelte sie und sie war der Grund, dass die Juden nicht vernichtet wurden (2). Ich habe dieses Esther-Programm anderswo detaillierter beschrieben (3).

Die Frau gestand mir, dass sie ihren Körper nicht mochte. Auf meine Frage, wie sie ein Bad nähme, antwortete sie: „Sehr heiß und ganz kurz“. Sie verwendete kein Parfum und hatte kein echtes Bedürfnis, sich geschmackvoll zu kleiden. Nun ging es darum, dass sie es schaffen musste, ein Bad zu nehmen und es zu genießen, Parfum zu verwenden und für ein schmuckes Kleid zu sparen. Das alles brauchte Zeit. Sie konnte zum letzten Schritt hinreifen. Die Party, die sie organisiert hatte, überwältigte ihren Mann ganz und gar, weil sie ein Hotel für Flitterwochen gebucht hatte (sie hatten nie eine Hochzeitsreise unternommen). Sie rief mich vom Hotel aus an und sagte mit etwas wütender Stimme: „…wir kugeln im  Bett herum, warum musste das so lange warten?“ Ich kicherte nur und wünschte ihnen noch ein wunderbares Wochenende. Sie brach in schallendes Gelächter aus. Wir schmunzelten darüber beim nächsten Treffen, ohne dass einige Details zur Sprache kamen und ich fragte auch nicht…

Das Gegenprogramm zur Scham

 Erst kürzlich habe ich ein Gegenprogramm zur Scham für die Verwendung in westlichen Ländern entwickelt. In anderen Kontinenten muss man sich an die lokalen Gegebenheiten anpassen. Die erste Phase beginnt wie das Estherprogramm mit einem Bad, währenddessen man klassische Musik oder solche zur Anbetung hört. Dahinter steht der Gedanke, dass man für das Bad eine positive Atmosphäre schafft, an die manche Überlebende des Missbrauchs nicht denken. Ich empfehle ihnen, mit dem Duschen aufzuhören, bevor sie anfangen, sich unwohl zu fühlen. Gewöhnlich können sie das nicht länger als ein bis drei Minuten aushalten. Nach und nach können sie lernen, sich daran zu erfreuen und die Dauer auszudehnen. Sie müssen letztlich versuchen, für maximal zwanzig Minuten oder fünf Lieder in der Dusche zu bleiben. Sind sie damit fertig, sollen sie das ein- oder zweimal wiederholen. Danach können sie kürzer baden. Frauen haben eine empfindliche Haut. Nach dem Bad sollen sie eine Bodylotion verwenden und ihre Haut vollständig behutsam massieren. Das ist notwendig, weil sonst die Haut zu jucken beginnt… Dieser achtsame Umgang mit dem Körper ist eine Lektion für sich.

Die zweite Phase ist für manche sogar noch schwieriger. Sie müssen lernen, ihren eigenen Körper ohne Scham zu erleben. Ich schlage vor, allein zu Hause zu sein, nicht durch Telefon oder Türklingel gestört zu werden. Sie sollen sich in ihr Flanellbetttuch einhüllen (Leintücher fühlen sich oft zu kalt an). Sie sollen sich unangekleidet ins Bett legen. Ich habe bei mir festgestellt, dass man die eigene Haut besser spürt, wenn man nackt im Bett liegt. Sie können in vier verschiedenen Positionen liegen: Auf der rechten und auf der linken Seite, auf dem Bauch und auf dem Rücken. Ich rate ihnen, die für sie angenehmste Lage zu wählen. Üblicherweise ist das diejenige, in der sie einschlafen. Sie sollen  Musik hören oder sogar dazu summen, während sie unter der Decke liegen und für gut drei Minuten zugedeckt darunter bleiben. Wie beim Bad sollen sie sich nicht zwingen, länger zu bleiben, als es ihnen gut tut. Das muss Tag für Tag wiederholt werden, bis sie in der Lage sind, es bis zu zwanzig Minuten auszuhalten. Eine Frau zeigte mir ein Bild von ihrem Schlafzimmer, versehen mit Planken über der Tür und den Fenstern, in der Absicht, „ihre Mutter nicht hereinzulassen“, wie sie sagte. Damals erfuhr ich zum ersten Mal, dass ihre Mutter sie missbraucht hatte.

Einmal können sie das für zwanzig Minuten in der einen, danach in allen anderen drei Lagen machen. Ich fand selbst heraus, dass es fast härter ist, nackt auf dem Rücken zu liegen. Das war tatsächlich ein Zustand, an den ich mich erst gewöhnen musste. Sobald sie das für etwa zwanzig Minuten auf jeder Seite zusammenbringen, und das zwei oder drei Mal wiederholen, sind sie für den dritten Abschnitt bereit.

Die dritte Phase:  Sie müssen sicher gehen, dass ihr Schlafzimmer warm ist. Dann legen sie sich nackt ins Bett, decken sich nicht zu, und danken Gott, dass sie am Leben sind. Im Grunde müssen sie sich entscheiden, das für ganze zwanzig Minuten zu machen. Nachdem sie das ein- oder zweimal wiederholt haben, haben sie etwas Großes vollbracht.

 

Die vierte Phase: Sie sollen einen lebensgroßen Spiegel verwenden (ein kleinerer tut es auch). Sie müssen sich vor den Spiegel stellen und sich selbst sagen, was ihnen an ihrem Körper gefällt. Das sollten sie möglicherweise zwei oder drei Mal wiederholen.

Eine Frau hat das folgendermaßen kommentiert: „Téo, es hat mir wirklich geholfen, positiv über mich zu denken, aber zwanzig Minuten so stehen, war  etwas lang“. Ich lachte und gab zu, nicht gesagt zu haben, dass dafür zwei oder drei Minuten genügen.

Die fünfte Phase: Sie werden ermutigt, sich zwei Garnituren Unterwäsche zu kaufen, die vier oder fünf Mal teurer ist als die, die sie im Moment tragen. Wenn sie diese kostspielige Unterwäsche tragen, fühlen und wissen sie: „Ich bin eine Prinzessin“…Das gibt ihnen ein gutes Selbstbewusstsein.

Manche Leute beschweren sich, dass das anscheinend zu teuer ist. Ich sage ihnen dann immer, dass der Gang zum Psychiater gewöhnlich sogar noch teurer ist.

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  1. vgl. Kapitel 6 in meinem Buch „Schluss mit dem Schweigen“

2 .Die Geschichte ist im Buch der Bibel nachzulesen.

  1. Von der Scham zum Frieden, S. 267-300.

Lobe den Herrn, meineSeele, und alles, was in mir ist, seinen heiligen Namen!

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